Antistigma-Arbeit für psychische Erkrankungen ist wichtig und notwendig, denn Menschen mit psychischen Erkrankungen werden immer wieder mit Stigmatisierung konfrontiert. Sei es, dass ihnen ihre Krankheit abgesprochen wird mit Sätzen wie: „Ach, stell dich mal nicht so an. Du musst einfach mal mehr lachen“. Oder, dass sie direkt als „völlig gestört und verrückt“ abgestempelt werden. Das ist beides ziemlich fatal und macht es für Betroffene noch schwieriger, darüber zu sprechen und sich Hilfe zu suchen. Deshalb ist es unheimlich wichtig, gegen die Vorurteile anzukämpfen. Doch kann ich mich als Betroffene überhaupt für Antistigma-Arbeit einsetzen? Wie offen kann ich über meine Erkrankung sprechen, ohne negative Konsequenzen für meinen Berufsweg zu befürchten? Wie viel Gesicht kann ich zeigen? Und wieso muss ich mir überhaupt Gedanken darüber machen?
Wie ich anfing über meine psychische Erkrankung zu sprechen…
Es gab eine Zeit, in der mein ganzer Tag von Essen und Nicht-Essen geprägt war. Das hat sich auch in meinem Suchverlauf auf Instagram widerspiegelte. Ich entdeckte immer mehr Accounts auf denen andere Betroffene über ihren Kampf gegen die Essstörung schrieben und sich gegenseitig motivierende Worte schenkten und ihr Gesicht zeigen. „Vielleicht kann mir das auch helfen“, dachte ich eines Tages und erstellte mir einen zweiten Instagram-Account, auf dem ich anonym über meinen täglichen Kampf mit dem Essen schrieb.
… und dann auch mein Gesicht zu zeigen
Irgendwann wurde in mir der Wunsch groß, auch Gesicht zu zeigen und die Anonymität abzulegen. Ich wollte nicht länger zwei Accounts haben: einen voller Tanzbilder mit der Maske einer heilen Welt und einen, der meine ehrlichen Gedanken und mein Gefühlsleben zeigte. Schließlich gehören beide Teile zu mir und dürfen ihren Platz haben. Ich hatte große Angst, was Freund:innen und Bekannte denken könnten, wenn sie im Internet nun auch die Mandy ohne Maske sehen können. So schrieb ich meiner besten Freundin einen Brief, in dem ich ihr von meinem zweiten Account erzählte. Ich merkte schnell, dass es eher zu einem besseren Verständnis führte.
Mittlerweile spiegelt mein Instagram-Profil mich ziemlich gut wider: meine Herausforderungen mit einer Sozialen Phobie, das Gefühl von Freiheit beim Tanzen, ein paar Gedanken zur Essstörung und Einblicke in meine ehrenamtlichen Tätigkeiten im Bereich Junge Selbsthilfe und Antistigma von psychischen Erkrankungen und Selbsthilfegruppen. Ich fühle mich überwiegend gut damit, offen über all das zu schreiben. Dadurch gibt es aber auch Themen, über die ich kein Wort verliere. Beispielsweise alles, was mit meiner Familie zu tun hat. Trotzdem gibt es immer wieder Momente, in denen ich mich frage, ob es wirklich eine gute Entscheidung war, mich mit Gesicht für meine Herzensthemen einzusetzen.
Ist Instagram der neue Lebenslauf?
Ich erinnere mich noch daran, wie ich vor einigen Jahren bei einem Vorstellungsgespräch für ein Praktikum war. Keine zehn Minuten später stand ich am Bahnhof, schon ploppte auf meinem Handy eine Benachrichtigung von Instagram auf und die beiden Mitarbeiterinnen, die gerade erst das Vorstellungsgespräch mit mir beendet hatten, waren meine zwei neuen Abonnentinnen. Mein erster Gedanke war: Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Der zweite: Werde ich jetzt erst recht eine Absage bekommen, weil sie keine Person mit einer psychischen Erkrankung haben wollen? Ein paar Tage später habe ich eine Zusage erhalten – es war also anscheinend kein Problem.
Der Wunsch, unvoreingenommen und ohne Stigmatisierung behandelt zu werden
Nach meinem Bachelorabschluss habe ich für ein Jahr ein FSJ in Bulgarien gemacht. Als mein Hausarzt meine psychischen Diagnosen in das ärztliche Gutachten eingetragen hat, hatte ich die große Befürchtung, dass ich meinen Platz nun wieder verlieren werde. Ich habe die Diagnosen verflucht, schließlich sagen die doch überhaupt nichts darüber aus, wer ich wirklich bin und was ich kann. Ich hatte Angst, dass meine Einsatzstelle das Gutachten zu Gesicht bekommt und die Menschen mir eingenommen durch Vorurteile begegnen.
Das Gutachten haben sie nicht zu Gesicht bekommen, aber das ganze Institut schien meine Followerzahl auf Instagram zu kennen. Wissen sie dann auch worüber ich schreibe? Denken sie deshalb schlecht über mich? Nach einem halben Jahr hatte ich dann das erste Mal ein Gespräch mit meiner Chefin darüber und sie sagte, sie hätte sich gewünscht, es von Anfang an zu wissen, um mir keine Aufgaben zu geben, die mich überfordern. Aber genau das war für mich ein Grund, wieso ich nicht wollte, dass sie es von Anfang an weiß: Ich möchte ganz normal und unvoreingenommen behandelt werden, denn nur ich selbst kann entscheiden, welche Aufgaben ich machen kann und welche nicht.
Ehrenamt im Lebenslauf: Hat meine Antistigma-Arbeit für psychische Erkrankungen einen Wert?
Das Ende meines Studiums befindet sich mittlerweile in Blickweite. In den nächsten Monaten werde ich viel Zeit damit verbringen, Bewerbungen zu schreiben. Die große Frage, die ich mir dabei stelle, ist: Soll ich mein ehrenamtliches Engagement erwähnen oder nicht? Ich habe dadurch schon viele Kompetenzen und Erfahrungen sammeln können, aber hat das einen Wert, wenn im selben Atemzug die Wörter Psyche, Soziale Phobie und Selbsthilfegruppe fallen? Wandert meine Bewerbung dann direkt in den Papierkorb? Und würden sie es nicht eh herausfinden, wenn sie meinen Namen in eine Suchmaschine eingeben?
Genau das habe ich bei meinem letzten Praktikum eine Kollegin gefragt und sie antwortete: „Wenn jemand ein Problem damit hat, dann würdest du dich dort eh nicht wohl fühlen und dort arbeiten wollen.“ Wie recht sie hat. Denn all das macht mich zu dem Menschen, der ich bin und die ganze Antistigma-Arbeit hat schließlich zum Ziel, dass man sich genau diese Fragen irgendwann hoffentlich nicht mehr stellen muss.